Dienstag, 26. Juni 2012

Mach das Fenster auf!


Niemand kann uns helfen, außer wir selbst. Diese Erkenntnis hat das Potential, zur zerstörerischsten sowie bittersten des eigenen Lebens zu werden. Oder aber auch zum realistischsten emotionalen Arschtritt, den eine verlorengegangene Seele bekommen kann.
Es ist ein feindseliges Gefühl, an diesem Punkt angelangt zu sein, an dem man keine Wahl mehr hat; an dem jeder Weg nur eine weitere miese Alternative ist. Es steht alles offen, doch kamen wir uns nie gebundener vor.
Das ist der Moment, in dem wir inständig hoffen, jemand käme uns zur Hilfe: ein Prinz auf weißem Pferd, der Antiheld mit Latexmaske, die Blondgelockte in Engelsgestalt, der Selbstlose, die noch Selbstlosere, die Liebe, Wut, Hass – irgendetwas. Doch das ist nicht, was passieren wird.
Wir können also weiter in der Ecke kauern, mitleidig das Gesicht verziehen und uns der Illusion hingeben, irgendwann eine starke Hand gereicht zu bekommen. Oder aber aufstehen und einfach gehen. Welchen Weg? Ganz egal. Belohnt werden wir durch ein Gefühl. Welches? Es ist egal! Scheint doch so ziemlich jedes besser, als ein deprimiertes Schluchzen des eigenen Seins.
Aussichtslosigkeit ist nicht existent, sie passiert nur dann, wenn wir nicht hinsehen. Also: Mach mal wieder ein Fenster auf und lass die Möglichkeiten rein.


Montag, 18. Juni 2012

It was a perfect storm


"[...] It's a big bad world full of twists and turns and people have a way of blinking and missing the moment. The moment that could have changed everything. I don't know what's going on with us, and I can't tell you why you should waste a leap of faith on the likes of me. But damn you smell good, like home. And you make excellent coffee. That's gotta count for something, right? [...]"


Freitag, 8. Juni 2012

Etwas über das Vermissen

Es gibt für alles eine Erklärung. Das haben wir gelernt. Und Wissenschaftler, Forscher, Tüftler und Experten setzen einiges daran, diese These aufrecht zu halten. Darum ist Liebe nicht mehr als Serotoninüberschuss und Liebeskummer der Entzug dessen. Für die hoffnungslosen Romantiker ist das vielleicht ernüchternd, für die hoffnungslos „Verliebten“ jedoch der Untergang. Denn wenn unsere Gefühle nicht nur geistig nicht steuerbar sind, sondern sich auch unkontrolliert durch Dritte beeinflussen lassen, ist unser Herz eine autonome Institution, die uns wahlweise auf Wolken oder durch die Hölle schickt – je nachdem. Und weil „je nachdem“ schwammiger nicht sein könnte, müssen wir ständig auf der Hut sein, vor der Liebe und ihrer Entourage von Schmerz, Sehnsucht und Einsamkeit.
Doch egal, wie sehr wir uns auch sträuben, im ungeschicktesten Zeitpunkt überrollt uns die Lawine von Adrenalin und Dopamin und wir sind unfähig, uns zu wehren. Solange die Pegel ihren Maximalwert halten, erfreuen wir uns noch am Hormonüberschuss und könnten wohl nicht „glücklicher“ sein. Verlässt uns aber unser Reiz-Objekt, ist der Aufprall hart. Denn leider gibt es für Lieben-Gelassene kein Methadon-Programm. Der kalte Entzug steht bevor und damit eine der großen psychischen Belastungen des menschlichen Geistes: das Vermissen.


Dass so ein „Cold Turkey“ echt ätzend ist, wissen wir spätestens seit „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Und es gibt mehr Gemeinsamkeiten, als uns beim Anblick der strähnigen Haare und der unreinen Haut von Christiane lieb ist: Flüssigkeitsverlust, Halluzinationen, Depressionen. Man sagt, man benötigt die Hälfte der Zeit, die es gedauert hat, bis es vorbei ist. Wer die hinter sich hat, weiß: Das ist Quatsch. Es dauert eben solang wie es dauert. Und es muss mindestens eine halbe Millionen Mal vorbei sein, um sein Ende zu finden. Wir werden nicht geheilt, sondern sind im besten Fall nur irgendwann „trocken“. Danach laufen wir tagtäglich Gefahr, einen Rückfall zu erleiden und sind gezeichnet von der Anstrengung, uns immer wieder erneut wehren zu müssen.
Besonders verhängnisvoll sind Straßen, Plätze und Lieder, die uns im Alltag begegnen. Nicht alle emotionalen Hinterlassenschaften passen in einen entflammbaren Schuhkarton. Ihnen Stand zu halten, bedarf einer ungemeinen Portion Stärke. Weil wir ihnen nicht entkommen können. Und plötzlich wieder mittendrin sind: im ersten Date, im ersten Kuss, in der ersten Taxifahrt, nach Hause, mit verlaufenem Mascara. Dieser Moment ist entscheidend – sind wir wirklich schon soweit? Können wir den Whiskey Whiskey sein lassen und ohne weiteres zum Wasser greifen? Wer diese Frage mit einem Schulterzucken beantwortet, ist noch ziemlich am Anfang dieses Horror-Trips. All die, die wissen, dass sie es nicht können, wissen nämlich wenigstens das.

Donnerstag, 7. Juni 2012

Manchmal macht es nicht „Bäm!“ – sondern „B…ä…m“

 
Mit „Crash! Boom! Bang!“ trafen es Roxette Mitte der 90er so ziemlich auf den Kopf. Sie benannten gleich ein ganzes Album nach diesem Gefühl, das dich rücklings packt und zu Boden wirft. Keine Luft mehr kriegen, weiche Knie, sich aufführen wie ein Volltrottel – ein fantastisches Gefühl. Und noch viel besser: Man weiß weder, warum genau, noch wie lange das jetzt anhalten wird. Ist ja auch egal; vermutlich für immer. Oder zumindest bis zur Hälfte.
Doch was passiert, wenn es kein „Bäm!“ gibt? Wenn uns nichts „die Schuhe auszieht“, uns rasendes Herzklopfen verpasst? Wenn da nicht dieses Kribbeln in den Fingern ist, die hektisch Nachrichten ins Handy tippen und danach doch zu feige sind, sie abzuschicken, und unser Verstand auch nicht überall Doppelgänger enttarnt oder das zumindest will? Ist es zwingend keine Herzenssache, wenn eventuell-Nachrichten erst gar nicht in Frage kommen und sich Sexträume ausschließlich um Sex drehen – ohne Vorgeschichte und Nachspiel?


Wir können Menschen aus den verschiedensten Gründen mögen: weil sie charmant sind, so unglaublich intelligent, uns zum Lachen bringen, verworrene Sätze verstehen, bevor wir sie überhaupt beendet haben, weil sie wissen, das Richtige zu sagen und in den richtigen Momenten die Klappe zu halten, weil sie unseren Chardonnay-Konsum teilen, unsere Küche deflorieren oder die perfekte Mischung aus „Ich brauche meinen Platz im Bett!“ und „Ich will deinen Körper: hier, jetzt!“ finden. Körperliche Sympathie kann entstehen, wenn aus Diskussionen über Weltpolitik und Sozialpsychologie heißes Aneinanderreiben wird und findet seine Bestätigung, wenn die Finger nicht mehr auf der eigenen Seite des Bettes bleiben, hätten sie doch die Möglichkeit. Und trotzdem können wir nach Hause gehen, Wäsche waschen, den Abwasch machen oder seelenruhig unsere Schuhe sortieren, ohne, mit Freundin am Ohr, den Schallplatten-Hänger mit seinem Namen in Endlosschleife abzuspielen. Kann dann „mögen“ genug sein?
Vielleicht ist es eine Theorie, die sich mit dem Wachsen und Reifen rund um das L-Wort bestätigt. Denn wer nicht wagt, der nicht gewinnt, wer nichts riskiert, hat keinen Spaß und wenn wir dadurch nicht schon gestorben sind, langweilen wir uns noch heute. Haben wir also unser Kontingent an Crashs, Booms und Bangs ausgeschöpft, gab es da schon die Zahl x, die uns hätte zeigen sollen, dass alles Verknallen und Verzücktsein letztendlich in großem Nichts endete, sollten wir es besser wissen. Doch tun wir nicht. Bis uns jemand sagt, der immer zwei Jahrzehnte weiser sein wird als wir selbst, dass es sich auch entwickeln kann. Weil es manchmal eben nicht „Bäm!“ macht, sondern „B…ä…m“.

Samstag, 19. Mai 2012

Eine Antwort, die alle Fragen stellt

 
Ein Philosophie-Student erzählte mir mal, dass das erste, was er in seinem Studium gelernt hatte, die Tatsache gewesen ist, dass wir im Grunde genommen rein gar nichts wissen. Das war wohl so ziemlich das Erleichterndste und Erschreckendste zugleich, was ich jemals hörte. Denn obwohl ich ein wirklich überaus großer Fan vom Deuten und Dechiffrieren bin, ist es wohl so, dass auch der größte Analytiker irgendwann an den Punkt kommt, Gewissheit haben zu müssen. Weil wir manchmal mit all dem Rätselraten gegen die Wand fahren. Und große Gefahr laufen, dabei den eigenen Kopf zu verlieren. Ich frage mich: Wann haben wir damit angefangen, zwischen den Zeilen zu lesen? Und vor allem: Warum? Wieso ist ein Wort kein Wort mehr und eine Tat nur noch Symbolik? Warum regiert Rhetorik den Alltag und nicht die Botschaft selbst?


Es gibt Dinge im Leben, bei denen ein Buch, das alle Antworten hat, mehr als hilfreich wäre. Spätestens dann, wenn wir uns bewusst werden, auf der Stelle zu treten. Denn manchmal kann so ein direkter Fakt ungeahnte Dynamik auslösen. Was wir also bräuchten, wäre quasi eine Enzyklopädie der emotionalen Intelligenz. Zumindest hätten wir dann die Wahl, könnten uns selbst überprüfen. Doch stattdessen verirren wir uns mehr und mehr in einem Taumel von Hoffen und Glauben, Meinen und Denken ­– ohne dabei auch nur den geringsten Schimmer zu haben. Also fangen wir an, zu ergründen, alles hervorzukramen, jedes Einzelne findet seine eigene Beleuchtung. In welchem Licht? Das ist wohl stimmungsabhängig und beugt sich der mentalen Persönlichkeit des Individuums. Wo bereits das vielleicht grundlegende Problem liegt: Wie können wir uns sicher sein, dass das Gesendete auch empfangen wird? Oder besser: Wie groß ist die Chance, dass wir das, was gesendet wird, auch tatsächlich empfangen?
Wenn der Philosophie-Student, mitsamt seiner Mitstudenten, Professoren und Institutionen, tatsächlich recht hat, wenn wir wirklich nichts wissen können, dann würde das bedeuten, dass wir immer und nie eine Chance haben; dass wir alles und nichts erreichen. Die Frage: Ist das jetzt gut oder schlecht?

Montag, 7. Mai 2012

Physische Psyche


Es gibt Situationen, in denen könnten wir unserem Gegenüber nicht näher sein: wie dem Gynäkologen beim halbjährlichen Eierstock-Check, dem Psychologen, dem wir zum hundertsten Mal den Sandkasten-Traum von vorletzter Woche als starkes Symbol unseres kindheitlichen Sehnens verkaufen wollen — oder dem Dunkelhaarigen, der uns gerade auszieht, nachdem er uns angezogen hatte, bevor wir ihn auszogen.



Dem Einen sind wir körperlich nah, dem Anderen emotional. Und in den seltensten Fällen vielleicht sogar beides. Doch was ist zuerst? Was bedeutungsschwerer?
Zweifellos ist die geistige Verbindung wohl die kompliziertere. Denn sie existiert durch die Komplexität des Denkens, durch das Erkennen von Zusammenhängen und Gemeinsamem. Sie ist eine intellektuelle Fessel, die wir uns gern anlegen lassen, doch deren Enge immer wieder zu justieren gilt. Die Doktoren der Seelenforschung haben schließlich studiert.
Körperliche Anziehung ist primitiver. Das ist der Moment, in dem wir kurz mal gar nichts denken, nur machen; in dem sich nichts falsch oder richtig anfühlt. Das triebgesteuerte Verhalten impfte man uns ein, um die Art zu erhalten. Wie sollte auch auf der Hand liegen, ob der traumtänzerische Homo erectus, der die magentafarbenen Blütenblätter genauso leidenschaftlich sammelt wie wir, auch das produktivere Sperma hat? Weil psychische Gemeinsamkeiten nicht die Art erhielten, konzentrierten wir uns auf Gerüche, Geschmäcker; optische Reize.
Das ist außerdem die Wurzel des Mythos vom "besten Freund": ein Junge, mit dem das Mädchen Pferde stehlen will, an dessen Schulter sie sich ausweint, weil ihr das Herz gebrochen wurde und von dessen Mutter sie geliebt wird. Sie findet ihn klug, hübsch, nett und weiß, dass er sie nie enttäuschen wird. Ins Bett geht sie trotzdem mit einem anderen. Weil da nichts ist, was knistert, was ihr unerklärlich heiß werden lässt, was sie zum Nichtdenken animiert.
Wir wissen also um die Seltenheit der geistigen Verbindung, möchten aber unsere Gene mit jemandem vermischen, der uns in erster Linie den Kopf ausschaltet. Indizien dafür sind bekannte Floskeln des Entsetzens: "Warum verdammt?" Und manchmal stellen wir uns diese Frage sogar selbst. Antworten finden wir keine. Weil es keine gibt. Weil die Tatsache Antwort genug ist.

Sonntag, 6. Mai 2012

Schritt für Schritt



Angeblich verarbeiten wir Trauer normalerweise in fünf Schritten:
1. Leugnen  
2. Zorn 
3. Verhandlung 
4. Depression 
2. Zorn (erneut) 
5. Akzeptanz
Wenn wir über eine sehr lange Zeit hinweg emotional auf der Stelle getreten sind, ist die Einsicht darüber erschreckend. Dieses tiefe Erschüttertsein sorgt dafür, dass wir es gar nicht abwarten können, den nächsten Schritt zu machen. Und plötzlich machen wir so viele, dass wir davonlaufen.
Bis zu dem Punkt, an dem wir auch das erkennen. Dann atmen wir durch, wagen einen zurück – um all das Revue passieren zu lassen, es zu überblicken – und können endlich unser eigenes Tempo finden.

Montag, 23. April 2012

Wann laufen Erinnerungen ab?

 
Hin und wieder gibt es im Leben Dinge, an denen wir unabdingbar festhalten. Wie die alte Lieblings-Jeans, in der wir vor fünf Jahren noch den vielleicht geilsten Hintern unserer Zeit hatten, das blaue Kleid, das uns bei all den ersten Dates erneut dieses „Je ne sais quoi“ empfinden ließ oder Omas Porzellan-Schale – die vielleicht tatsächlich hässlich ist, aber uns immer wieder das Gefühl von Weihnachten ’98 durch den Körper jagt.

 

Diese Objekte leben von Erinnerungen. Sie sind emotionaler Nippes. Und solange sie uns ein beherztes Lächeln und warme Gedanken verschaffen, ist ihr Dasein auch berechtigt – irgendwie. Doch im Laufe der Jahre sammelt sich außerdem eine Menge jener Dinge an, die uns zurück ins Gedächtnis rufen, wie wir vor bestimmter Zeit niedergeschlagen und hoffnungslos vor uns hin kauerten – der festen Überzeugung, das würde ewig so sein. Diese Dinge, meist Fotos, Briefe oder verdrängte Telefonnummern auf Zetteln, sind nicht zwingend hübsche Deko. Eigentlich wollen wir sie gar nicht mehr sehen. Darum schoben wir sie irgendwann in hinterste Ecken von Schubladen, klemmten sie in ungeliebte Bücher oder legten sie auf den „Das schmeiß ich alles weg, ernsthaft!“-Stapel. Und dort existieren sie dann vor sich hin. Bis ein zu später Abend hereinbricht und uns die Melancholie der zweiten Weinflasche umarmt.
Was kann uns ein Stück Papier geben? Das Bild eines Moments, der jetzt nicht mehr ist. Die Zahlen einer Nummer, die man nie wieder wählen wollte. Oder die Worte, die sich ewig in unser Bewusstsein fraßen – bis wir sie aufschrieben, um sie zu vergessen. Welchen Sinn macht es da, diese Protokolle schrecklicher Augenblicke aufzuarbeiten? Wie lang ist zu lang, sich erinnern zu wollen?

Freitag, 20. April 2012

Im Gespräch mit ihr


„Es jährt sich“, sagt sie, als sich das Weinglas füllt. Ich hatte eine unüberschaubare Zeit lang nichts mehr von ihr gehört. Was wir beide nicht sonderlich bedauerten. Denn eigentlich dachten wir, wir würden uns nie wieder sehen. Und das wäre gut so.
Zwischen uns hatte sich ein scheinbar nicht zu überwindender Abgrund aufgetan – weil wir in manchen Dingen einfach zu ähnlich sind, um in anderen so verschieden sein zu wollen. Das letzte Mal waren wir uns kurz vor dem Jahreswechsel begegnet. Es passte nicht mehr und ich war froh, als diese kurzzeitige Zusammenkunft endete.
Doch an diesem Abend treffe ich sie wieder. Sie sieht gut aus. Das Lächeln scheint weniger gefälscht und der leere Blick, der die letzten Male so verstörend auf mich wirkte, ist voll von Fassung und Einsicht. Ich habe das Bedürfnis, sie in die Arme zu nehmen. Aber dafür ist sie zu verschroben. Und ich irgendwie auch. Also redet sie, während ich zuhöre.

Es jährt sich. In einem Monaten wird es verdammte 366 Tage her sein, dass sie in der S-Bahn die Nachricht erhielt – an einem Freitag, den 13.; kurz bevor sie den Vertrag eines neuen Jobs unterschrieb, den sie hassen werden würde. Sie musste aussteigen. Ihr physisches Ich konnte sich nicht entscheiden: Musste sie weinen oder würgen? Sie fühlte sich in einen spektakulären Raubüberfall mit tödlichem Ende verwickelt: geschubst, gefallen, das Messer im Rücken – von hinten durchs Herz gerammt, um dann ganz langsam zu verbluten.
Die Leute drängten sich an ihr vorbei. Sie stand im Weg. Aber sie konnte nicht anders. Sie konnte nicht weg, sie wollte sich nicht bewegen. Ihre Ohren sausten, ihr wurde schwindelig und der Reiz in ihrem Hals stärker. Tausend Fragen waren offen – die sich jetzt im Sekundentakt potenzierten.
Hastig tippte sie wirre Buchstaben in ihr Blackberry, in der Hoffnung, den Zeit-zurückdrehen-Code zu entschlüsseln oder die Ungeschehen-Taste zu drücken. Mindestens die Ich-verstehe-Option zu finden. War es nicht ein verdammtes Smart-Phone? Aber es ging nicht mehr zurück, seit es angefangen hatte; dieses grausame Trauerspiel war nicht mehr zu streichen und verstanden hat sie bis heute nicht.
Das, was sich über unzählige Akte hingezogen hatte, war plötzlich nichts. Gar nichts. Eine Fata Morgana, die dem übermäßigen Mangel an Selbstwert entsprang. Die Antihelden-Story, die nur Sinnestäuschung war.
Dieser Tag war nicht der letzte, wenngleich der endgültigste. Alles was danach kam, war nur noch verworrener als zuvor. Es war die leidigste Zerstörung, die sie je hatte mit ansehen müssen – und in der Hauptrolle ihr Gesicht.
Hatte sie sich doch über all die niederschlagenden Momente hinweg blindlings an ihn geklammert: ihren Glauben. Sie hatte ihn verteidigt, ganze Argumentationsketten formiert. Denn wann immer jemand versuchte, die von ihr selbstgeschriebene Geschichte zu analysieren, schmetterte sie diesem alle Weil- und Aber-Formationen entgegen, die ihr hübsches Köpfchen bis dahin zusammengetragen hatte. Und nun musste sie feststellen, dass sie falsch lag. Dass der vermeintliche Durchblick falsch war. Einfach falsch. Diese zwei Zeilen auf ihrem Display machten das unmissverständlich deutlich.
Sie ließ sich von der Masse wieder in die Bahn schieben, suchte einen Fensterplatz. Den Rücken gerade und den Blick aus dem Fenster in die Leere gerichtet, schlug sie die Beine übereinander und drehte die Musik lauter. Das war der Moment, in dem sie keine Ausrede mehr für ihn hatte, keine Entschuldigung, kein Verständnis. Es war das erste Mal, dass sie es so sah, wie es war: zu Ende.

Während der letzte Rest aus der Flasche ins Glas läuft, ist es der gewohnte Blick, der mich packt. So unendlich traurig. Sie hat sich nicht verändert, sie steht noch immer an dieser Kreuzung, deren richtiger Weg einzuschlagen gilt. Und mir wird bewusst, dass ich sie vermisst habe. Weil Dinge nicht besser werden, wenn wir sie von uns schieben. Aus den Augen heißt nicht aus dem Sinn. Manches bleibt viel länger, als es uns lieb ist. Und alles was wir tun können, ist versuchen, damit umzugehen: stärker werden, um es in den Arm zu nehmen und ihm über die Straße zu helfen. 

Donnerstag, 19. April 2012

Unerwartet überrumpelt


Das Ding an Überraschungsmomenten ist, dass du nie vorhersehen kannst, ob sie dich jetzt glücklich machen – oder dir die Schamröte ins Gesicht treiben. Selbst an Orten, an denen du dich in vollkommener Sicherheit wiegst, kann es passieren, dass dir das Unvorhersehbare mit voller Wucht gegen die Stirn klatscht. Was wir dann tun können? Das Gesicht wahren. Wir streichen uns die Haare aus dem Gesicht und lächeln dem Abstrusen souverän entgegen – ganz egal, wie prekär die Lage scheint. Ist es dann überstanden, können wir uns die Haare raufen, auf die Lippen beißen, hysterisch umherspringen und mit den frisch lackierten Nägeln die Fäuste ballen, ernsthaft gewillt, dem nächstbesten körperliche Gewalt anzutun. Aber so einfach ist das nicht. 
 
Es scheint nicht klar, ob der Tatvorgang selbst Auslöser unseres plötzlichen Adrenalin-Überschusses ist. Fest steht nur: Komische Aktionen passieren in komischen Momenten. Denn die Situation ist nicht geplant, nicht durchdacht. Es gibt keine Anzeichen. Nicht das Geringste könnte uns davor warnen. Wir sind unvorbereitet.
Vielleicht ist es eine Frage der Spontanität. Doch wie spontan kann sich schon ein Gefühlsausbruch in Zurückhaltung üben? In diesen Augenblicken werden wir meilenweit in die Urzeit katapultiert – da, wo Triebgesteuertes noch obere Priorität hatte und es nur ums Überleben ging. Was auch für den ein oder anderen Überraschungsmoment ein wünschenswerter Ausgang wäre. Es ist demnach nicht immer möglich, die Fassung zu behalten. Also rennen wir los, panisch, stolpern, verschlucken uns, kippen Dinge um oder – im schlimmsten Fall: der Versuch, das Gesicht zu verdecken und in Anonymität zu versinken. Fatal, weil es nicht funktioniert.
Wir können uns auf derartige Umstände nicht einstellen. Denn wenn es soweit ist, gibt es immer noch ein skurrileres Verhaltensmuster. Wie nervöses Lachen. Oder einfach nur da zu stehen – und plötzlich gar nichts mehr zu machen.

Sonntag, 15. April 2012

Sonntagsblues


Jeder Tag hat die Möglichkeit, der beste zu werden – hypothetisch betrachtet. Es sei denn, es ist ein Sonntag.
Denn das ist der einzige Tag innerhalb einer Woche, der dazu verdammt ist, den Résumé-Anspruch zu bedienen. Wir verarbeiten unser Freitag-Abend-Date, probieren vitaminhaltige Pharmazeutika, weil es in der Nacht zuvor zu viele Alkoholika gab, versuchen dem Mitbringsel aus unserem Lieblingsclub dezent zu verdeutlichen, endlich zu verschwinden oder aber wir stehen früh auf, um die Wäsche zu machen. Völlig egal, was wir tun: Sonntags ist es immer die ungeliebte Variante.
Zum einen, weil wir wehmütig auf eine ungezwungene Zeit zurückblicken, zum anderen, weil wir dem nächsten Tag, voller Termine, Pläne und Ansprüche an uns selbst, mitten ins Gesicht starren. Alles ist ein bisschen mehr schwarz, alles ein bisschen weiter weg. Sonntags ist die ganze Welt wie ein Vakuum: nicht zu greifen und ohne Druck erschreckend leicht. Weil Momente plötzlich vergehen.

Mittwoch, 4. April 2012

Sonntag, 1. April 2012

Dear Mr Postman


Manche Dinge eignen sich ganz besonders dazu, sie vor sich herzuschieben: der Abwasch, die Wäsche, der Weg zur Post. Doch spätestens dann, wenn wir keine sauberen Weingläser mehr finden und der Wonderbra zu einer Belanglosigkeit wie dem wöchentlichen Lebensmitteleinkauf ausgeführt wird, haben wir die Wahl: Wir können aus der Flasche trinken und unsere Brüste dem anabolen Supermarktkassierer unter die Nase quetschen. Oder zur Post gehen, um endlich diesen verdammten Brief abzuholen.
Ich gehe davon aus, dass an mich gerichtete Nachrichten in Papierform ihren Weg durch meinen Briefschlitz finden. Und das nervige Quietschen mit darauffolgendem Knallen am Morgen ist Beweis dafür. Doch lassen sich manche Sendungen allem Anschein nach nicht so ohne weiteres durch diesen größentechnisch beschränkten Einwurf schieben. So bleibt für mich nur eine Benachrichtigung darüber, dass mich jemand über etwas zu benachrichtigen versucht.
Der Regelfall verhält sich wie folgt: Es vergehen Tage, manchmal sogar Wochen, bis ich die Zeit, Lust und nötige Neugier zusammenhabe, um mich in der Poststelle nach dem Verbleib meiner Sendung zu erkundigen. Sind es doch nur in den seltensten Fällen Schriften, deren Inhalt mich überraschen. Eigentlich handelt es sich meist um die üblichen Laster: Rechnungen, deren Erinnerungsschreiben und deren Mahnungen. Auch diesmal war es verwechselnd ähnlich. Nur durchlief der Brief sogar eine Vielzahl an Zustellungsversuchen. Doch alles Falten, Knüllen und Zwängen nützte nichts. Genauso wenig wie das Klingeln des Postboten. Denn mein Briefschlitz behielt seine zu kleinen Maßen und ich war zu beschäftigt, abgelenkt oder gerade dabei, meine innere Mitte zu finden – und dabei alle äußerlichen Wahrnehmungen auszublenden. Erfolgreich.
Es hat eine ganze Weile gedauert, bis mich endlich das Schwarz-auf-Weiß erreichte. Den Absender kannte ich. Und es war keine Rechnung oder Mahnung. Aber eine Erinnerung. Und zwar daran, mich zu erinnern. Und es nicht mehr vor mir herzuschieben.