Montag, 12. März 2012

Kussecht


Schlechte Erfahrungen überdauern alles. Sie sind wie spröde Lippen, die an kalten Wintertagen aufreißen und brennen: Egal, welches Wundermittel du versuchst – dieses Spannen in den Mundwinkel bleibt. Und selbst im Sommer, wenn der Lipgloss mit Moisture-Effekt die Lippen zum Glänzen bringt, weißt du noch, wie sie sich angefühlt haben. So etwas vergisst man nicht.
 
In dieser Weise verhält es sich auch mit Lebensmomenten, die uns von unserer inneren Mitte abbrachten, die uns dazu zwangen, uns selbst in der jämmerlichsten Pose von oben zu betrachten und nichts als allesergreifende Leere zu empfinden. Das ist es, was sich tief in uns festkrallt.
Und so passiert es, dass Probleme aus Problemen entstehen; dass wir nicht anders können, als wir eben können und nach dem Aufprall völlig erschöpft den zehnten Stock erreichen, um noch einmal zu springen. Schließlich geschieht der Durchbruch in der Seelenheil-Sitzung nicht etwa mit dem Satz: „Ich bin total verkorkst, weil ich in der vierten Klasse beim Lesewettbewerb gewann.“ Sondern weil wir uns erinnern – an das Schlechte. An das, was wir offensichtlich bislang übermalt hatten, um den Sommer mit den neuen Farben zu genießen – das uns aber bei jedem Nachziehen vor dem Spiegel durchzuckt. Denn ganz egal, wie viel wir auftragen: Der nächste Winter kommt. Und allein der Gedanke daran liegt wie ein mieser Grauschleier über der Bunte.
Wir könnten sie, frei von greller Chemie und völlig auf sich allein gestellt, abheilen lassen, erwachsen und ganz natürlich mit dem Gedanken umgehen, dass das nicht zwingend das letzte Mal gewesen sein muss. Aber weil wir wissen, dass diese sensible Stelle unseren Worten Formen verleiht und gelernt hat, ein Lächel so wunderschön vorzutäuschen, liegt es manchmal näher, sich gegen die schmerzhafte Aufarbeitung zu entscheiden – und im Farbrausch zu kussecht zu wechseln.

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