Samstag, 19. Mai 2012

Eine Antwort, die alle Fragen stellt

 
Ein Philosophie-Student erzählte mir mal, dass das erste, was er in seinem Studium gelernt hatte, die Tatsache gewesen ist, dass wir im Grunde genommen rein gar nichts wissen. Das war wohl so ziemlich das Erleichterndste und Erschreckendste zugleich, was ich jemals hörte. Denn obwohl ich ein wirklich überaus großer Fan vom Deuten und Dechiffrieren bin, ist es wohl so, dass auch der größte Analytiker irgendwann an den Punkt kommt, Gewissheit haben zu müssen. Weil wir manchmal mit all dem Rätselraten gegen die Wand fahren. Und große Gefahr laufen, dabei den eigenen Kopf zu verlieren. Ich frage mich: Wann haben wir damit angefangen, zwischen den Zeilen zu lesen? Und vor allem: Warum? Wieso ist ein Wort kein Wort mehr und eine Tat nur noch Symbolik? Warum regiert Rhetorik den Alltag und nicht die Botschaft selbst?


Es gibt Dinge im Leben, bei denen ein Buch, das alle Antworten hat, mehr als hilfreich wäre. Spätestens dann, wenn wir uns bewusst werden, auf der Stelle zu treten. Denn manchmal kann so ein direkter Fakt ungeahnte Dynamik auslösen. Was wir also bräuchten, wäre quasi eine Enzyklopädie der emotionalen Intelligenz. Zumindest hätten wir dann die Wahl, könnten uns selbst überprüfen. Doch stattdessen verirren wir uns mehr und mehr in einem Taumel von Hoffen und Glauben, Meinen und Denken ­– ohne dabei auch nur den geringsten Schimmer zu haben. Also fangen wir an, zu ergründen, alles hervorzukramen, jedes Einzelne findet seine eigene Beleuchtung. In welchem Licht? Das ist wohl stimmungsabhängig und beugt sich der mentalen Persönlichkeit des Individuums. Wo bereits das vielleicht grundlegende Problem liegt: Wie können wir uns sicher sein, dass das Gesendete auch empfangen wird? Oder besser: Wie groß ist die Chance, dass wir das, was gesendet wird, auch tatsächlich empfangen?
Wenn der Philosophie-Student, mitsamt seiner Mitstudenten, Professoren und Institutionen, tatsächlich recht hat, wenn wir wirklich nichts wissen können, dann würde das bedeuten, dass wir immer und nie eine Chance haben; dass wir alles und nichts erreichen. Die Frage: Ist das jetzt gut oder schlecht?

Montag, 7. Mai 2012

Physische Psyche


Es gibt Situationen, in denen könnten wir unserem Gegenüber nicht näher sein: wie dem Gynäkologen beim halbjährlichen Eierstock-Check, dem Psychologen, dem wir zum hundertsten Mal den Sandkasten-Traum von vorletzter Woche als starkes Symbol unseres kindheitlichen Sehnens verkaufen wollen — oder dem Dunkelhaarigen, der uns gerade auszieht, nachdem er uns angezogen hatte, bevor wir ihn auszogen.



Dem Einen sind wir körperlich nah, dem Anderen emotional. Und in den seltensten Fällen vielleicht sogar beides. Doch was ist zuerst? Was bedeutungsschwerer?
Zweifellos ist die geistige Verbindung wohl die kompliziertere. Denn sie existiert durch die Komplexität des Denkens, durch das Erkennen von Zusammenhängen und Gemeinsamem. Sie ist eine intellektuelle Fessel, die wir uns gern anlegen lassen, doch deren Enge immer wieder zu justieren gilt. Die Doktoren der Seelenforschung haben schließlich studiert.
Körperliche Anziehung ist primitiver. Das ist der Moment, in dem wir kurz mal gar nichts denken, nur machen; in dem sich nichts falsch oder richtig anfühlt. Das triebgesteuerte Verhalten impfte man uns ein, um die Art zu erhalten. Wie sollte auch auf der Hand liegen, ob der traumtänzerische Homo erectus, der die magentafarbenen Blütenblätter genauso leidenschaftlich sammelt wie wir, auch das produktivere Sperma hat? Weil psychische Gemeinsamkeiten nicht die Art erhielten, konzentrierten wir uns auf Gerüche, Geschmäcker; optische Reize.
Das ist außerdem die Wurzel des Mythos vom "besten Freund": ein Junge, mit dem das Mädchen Pferde stehlen will, an dessen Schulter sie sich ausweint, weil ihr das Herz gebrochen wurde und von dessen Mutter sie geliebt wird. Sie findet ihn klug, hübsch, nett und weiß, dass er sie nie enttäuschen wird. Ins Bett geht sie trotzdem mit einem anderen. Weil da nichts ist, was knistert, was ihr unerklärlich heiß werden lässt, was sie zum Nichtdenken animiert.
Wir wissen also um die Seltenheit der geistigen Verbindung, möchten aber unsere Gene mit jemandem vermischen, der uns in erster Linie den Kopf ausschaltet. Indizien dafür sind bekannte Floskeln des Entsetzens: "Warum verdammt?" Und manchmal stellen wir uns diese Frage sogar selbst. Antworten finden wir keine. Weil es keine gibt. Weil die Tatsache Antwort genug ist.

Sonntag, 6. Mai 2012

Schritt für Schritt



Angeblich verarbeiten wir Trauer normalerweise in fünf Schritten:
1. Leugnen  
2. Zorn 
3. Verhandlung 
4. Depression 
2. Zorn (erneut) 
5. Akzeptanz
Wenn wir über eine sehr lange Zeit hinweg emotional auf der Stelle getreten sind, ist die Einsicht darüber erschreckend. Dieses tiefe Erschüttertsein sorgt dafür, dass wir es gar nicht abwarten können, den nächsten Schritt zu machen. Und plötzlich machen wir so viele, dass wir davonlaufen.
Bis zu dem Punkt, an dem wir auch das erkennen. Dann atmen wir durch, wagen einen zurück – um all das Revue passieren zu lassen, es zu überblicken – und können endlich unser eigenes Tempo finden.