Freitag, 8. Juni 2012

Etwas über das Vermissen

Es gibt für alles eine Erklärung. Das haben wir gelernt. Und Wissenschaftler, Forscher, Tüftler und Experten setzen einiges daran, diese These aufrecht zu halten. Darum ist Liebe nicht mehr als Serotoninüberschuss und Liebeskummer der Entzug dessen. Für die hoffnungslosen Romantiker ist das vielleicht ernüchternd, für die hoffnungslos „Verliebten“ jedoch der Untergang. Denn wenn unsere Gefühle nicht nur geistig nicht steuerbar sind, sondern sich auch unkontrolliert durch Dritte beeinflussen lassen, ist unser Herz eine autonome Institution, die uns wahlweise auf Wolken oder durch die Hölle schickt – je nachdem. Und weil „je nachdem“ schwammiger nicht sein könnte, müssen wir ständig auf der Hut sein, vor der Liebe und ihrer Entourage von Schmerz, Sehnsucht und Einsamkeit.
Doch egal, wie sehr wir uns auch sträuben, im ungeschicktesten Zeitpunkt überrollt uns die Lawine von Adrenalin und Dopamin und wir sind unfähig, uns zu wehren. Solange die Pegel ihren Maximalwert halten, erfreuen wir uns noch am Hormonüberschuss und könnten wohl nicht „glücklicher“ sein. Verlässt uns aber unser Reiz-Objekt, ist der Aufprall hart. Denn leider gibt es für Lieben-Gelassene kein Methadon-Programm. Der kalte Entzug steht bevor und damit eine der großen psychischen Belastungen des menschlichen Geistes: das Vermissen.


Dass so ein „Cold Turkey“ echt ätzend ist, wissen wir spätestens seit „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Und es gibt mehr Gemeinsamkeiten, als uns beim Anblick der strähnigen Haare und der unreinen Haut von Christiane lieb ist: Flüssigkeitsverlust, Halluzinationen, Depressionen. Man sagt, man benötigt die Hälfte der Zeit, die es gedauert hat, bis es vorbei ist. Wer die hinter sich hat, weiß: Das ist Quatsch. Es dauert eben solang wie es dauert. Und es muss mindestens eine halbe Millionen Mal vorbei sein, um sein Ende zu finden. Wir werden nicht geheilt, sondern sind im besten Fall nur irgendwann „trocken“. Danach laufen wir tagtäglich Gefahr, einen Rückfall zu erleiden und sind gezeichnet von der Anstrengung, uns immer wieder erneut wehren zu müssen.
Besonders verhängnisvoll sind Straßen, Plätze und Lieder, die uns im Alltag begegnen. Nicht alle emotionalen Hinterlassenschaften passen in einen entflammbaren Schuhkarton. Ihnen Stand zu halten, bedarf einer ungemeinen Portion Stärke. Weil wir ihnen nicht entkommen können. Und plötzlich wieder mittendrin sind: im ersten Date, im ersten Kuss, in der ersten Taxifahrt, nach Hause, mit verlaufenem Mascara. Dieser Moment ist entscheidend – sind wir wirklich schon soweit? Können wir den Whiskey Whiskey sein lassen und ohne weiteres zum Wasser greifen? Wer diese Frage mit einem Schulterzucken beantwortet, ist noch ziemlich am Anfang dieses Horror-Trips. All die, die wissen, dass sie es nicht können, wissen nämlich wenigstens das.

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