„Es jährt sich“, sagt sie,
als sich das Weinglas füllt. Ich hatte eine unüberschaubare Zeit lang nichts
mehr von ihr gehört. Was wir beide nicht sonderlich bedauerten. Denn eigentlich
dachten wir, wir würden uns nie wieder sehen. Und das wäre gut so.
Zwischen uns hatte sich ein scheinbar nicht zu überwindender Abgrund aufgetan –
weil wir in manchen Dingen einfach zu ähnlich sind, um in anderen so
verschieden sein zu wollen. Das letzte Mal waren wir uns kurz vor dem
Jahreswechsel begegnet. Es passte nicht mehr und ich war froh, als diese
kurzzeitige Zusammenkunft endete.
Doch an diesem Abend treffe ich sie wieder. Sie sieht gut aus. Das Lächeln
scheint weniger gefälscht und der leere Blick, der die letzten Male so
verstörend auf mich wirkte, ist voll von Fassung und Einsicht. Ich habe das
Bedürfnis, sie in die Arme zu nehmen. Aber dafür ist sie zu verschroben. Und
ich irgendwie auch. Also redet sie, während ich zuhöre.
Es jährt sich. In einem
Monaten wird es verdammte 366 Tage her sein, dass sie in der S-Bahn die
Nachricht erhielt – an einem Freitag, den 13.; kurz bevor sie den Vertrag eines
neuen Jobs unterschrieb, den sie hassen werden würde. Sie musste aussteigen.
Ihr physisches Ich konnte sich nicht entscheiden: Musste sie weinen oder würgen?
Sie fühlte sich in einen spektakulären Raubüberfall mit tödlichem Ende
verwickelt: geschubst, gefallen, das Messer im Rücken – von hinten durchs Herz
gerammt, um dann ganz langsam zu verbluten.
Die Leute drängten sich an ihr vorbei. Sie stand im Weg. Aber sie konnte nicht
anders. Sie konnte nicht weg, sie wollte sich nicht bewegen. Ihre Ohren sausten,
ihr wurde schwindelig und der Reiz in ihrem Hals stärker. Tausend Fragen waren
offen – die sich jetzt im Sekundentakt potenzierten.
Hastig tippte sie wirre Buchstaben in ihr Blackberry, in der Hoffnung, den
Zeit-zurückdrehen-Code zu entschlüsseln oder die Ungeschehen-Taste zu drücken.
Mindestens die Ich-verstehe-Option zu finden. War es nicht ein verdammtes Smart-Phone? Aber es ging nicht mehr zurück,
seit es angefangen hatte; dieses grausame Trauerspiel war nicht mehr zu
streichen und verstanden hat sie bis heute nicht.
Das, was sich über unzählige Akte hingezogen hatte, war plötzlich nichts. Gar
nichts. Eine Fata Morgana, die dem übermäßigen Mangel an Selbstwert entsprang.
Die Antihelden-Story, die nur Sinnestäuschung war.
Dieser Tag war nicht der letzte, wenngleich der endgültigste. Alles was danach kam,
war nur noch verworrener als zuvor. Es war die leidigste Zerstörung, die sie je
hatte mit ansehen müssen – und in der Hauptrolle ihr Gesicht.
Hatte sie sich doch über all die niederschlagenden Momente hinweg blindlings an
ihn geklammert: ihren Glauben. Sie hatte ihn verteidigt, ganze
Argumentationsketten formiert. Denn wann immer jemand versuchte, die von ihr
selbstgeschriebene Geschichte zu analysieren, schmetterte sie diesem alle Weil-
und Aber-Formationen entgegen, die ihr hübsches Köpfchen bis dahin zusammengetragen
hatte. Und nun musste sie feststellen, dass sie falsch lag. Dass der
vermeintliche Durchblick falsch war. Einfach falsch. Diese zwei Zeilen auf
ihrem Display machten das unmissverständlich deutlich.
Sie ließ sich von der Masse wieder in die Bahn schieben, suchte einen
Fensterplatz. Den Rücken gerade und den Blick aus dem Fenster in die Leere
gerichtet, schlug sie die Beine übereinander und drehte die Musik lauter. Das
war der Moment, in dem sie keine Ausrede mehr für ihn hatte, keine
Entschuldigung, kein Verständnis. Es war das erste Mal, dass sie es so sah, wie
es war: zu Ende.
Während der letzte Rest aus
der Flasche ins Glas läuft, ist es der gewohnte Blick, der mich packt. So
unendlich traurig. Sie hat sich nicht verändert, sie steht noch immer an dieser
Kreuzung, deren richtiger Weg einzuschlagen gilt. Und mir wird bewusst, dass
ich sie vermisst habe. Weil Dinge nicht besser werden, wenn wir sie von uns
schieben. Aus den Augen heißt nicht aus dem Sinn. Manches bleibt viel länger,
als es uns lieb ist. Und alles was wir tun können, ist versuchen, damit
umzugehen: stärker werden, um es in den Arm zu nehmen und ihm über die Straße zu
helfen.