Freitag, 20. April 2012

Im Gespräch mit ihr


„Es jährt sich“, sagt sie, als sich das Weinglas füllt. Ich hatte eine unüberschaubare Zeit lang nichts mehr von ihr gehört. Was wir beide nicht sonderlich bedauerten. Denn eigentlich dachten wir, wir würden uns nie wieder sehen. Und das wäre gut so.
Zwischen uns hatte sich ein scheinbar nicht zu überwindender Abgrund aufgetan – weil wir in manchen Dingen einfach zu ähnlich sind, um in anderen so verschieden sein zu wollen. Das letzte Mal waren wir uns kurz vor dem Jahreswechsel begegnet. Es passte nicht mehr und ich war froh, als diese kurzzeitige Zusammenkunft endete.
Doch an diesem Abend treffe ich sie wieder. Sie sieht gut aus. Das Lächeln scheint weniger gefälscht und der leere Blick, der die letzten Male so verstörend auf mich wirkte, ist voll von Fassung und Einsicht. Ich habe das Bedürfnis, sie in die Arme zu nehmen. Aber dafür ist sie zu verschroben. Und ich irgendwie auch. Also redet sie, während ich zuhöre.

Es jährt sich. In einem Monaten wird es verdammte 366 Tage her sein, dass sie in der S-Bahn die Nachricht erhielt – an einem Freitag, den 13.; kurz bevor sie den Vertrag eines neuen Jobs unterschrieb, den sie hassen werden würde. Sie musste aussteigen. Ihr physisches Ich konnte sich nicht entscheiden: Musste sie weinen oder würgen? Sie fühlte sich in einen spektakulären Raubüberfall mit tödlichem Ende verwickelt: geschubst, gefallen, das Messer im Rücken – von hinten durchs Herz gerammt, um dann ganz langsam zu verbluten.
Die Leute drängten sich an ihr vorbei. Sie stand im Weg. Aber sie konnte nicht anders. Sie konnte nicht weg, sie wollte sich nicht bewegen. Ihre Ohren sausten, ihr wurde schwindelig und der Reiz in ihrem Hals stärker. Tausend Fragen waren offen – die sich jetzt im Sekundentakt potenzierten.
Hastig tippte sie wirre Buchstaben in ihr Blackberry, in der Hoffnung, den Zeit-zurückdrehen-Code zu entschlüsseln oder die Ungeschehen-Taste zu drücken. Mindestens die Ich-verstehe-Option zu finden. War es nicht ein verdammtes Smart-Phone? Aber es ging nicht mehr zurück, seit es angefangen hatte; dieses grausame Trauerspiel war nicht mehr zu streichen und verstanden hat sie bis heute nicht.
Das, was sich über unzählige Akte hingezogen hatte, war plötzlich nichts. Gar nichts. Eine Fata Morgana, die dem übermäßigen Mangel an Selbstwert entsprang. Die Antihelden-Story, die nur Sinnestäuschung war.
Dieser Tag war nicht der letzte, wenngleich der endgültigste. Alles was danach kam, war nur noch verworrener als zuvor. Es war die leidigste Zerstörung, die sie je hatte mit ansehen müssen – und in der Hauptrolle ihr Gesicht.
Hatte sie sich doch über all die niederschlagenden Momente hinweg blindlings an ihn geklammert: ihren Glauben. Sie hatte ihn verteidigt, ganze Argumentationsketten formiert. Denn wann immer jemand versuchte, die von ihr selbstgeschriebene Geschichte zu analysieren, schmetterte sie diesem alle Weil- und Aber-Formationen entgegen, die ihr hübsches Köpfchen bis dahin zusammengetragen hatte. Und nun musste sie feststellen, dass sie falsch lag. Dass der vermeintliche Durchblick falsch war. Einfach falsch. Diese zwei Zeilen auf ihrem Display machten das unmissverständlich deutlich.
Sie ließ sich von der Masse wieder in die Bahn schieben, suchte einen Fensterplatz. Den Rücken gerade und den Blick aus dem Fenster in die Leere gerichtet, schlug sie die Beine übereinander und drehte die Musik lauter. Das war der Moment, in dem sie keine Ausrede mehr für ihn hatte, keine Entschuldigung, kein Verständnis. Es war das erste Mal, dass sie es so sah, wie es war: zu Ende.

Während der letzte Rest aus der Flasche ins Glas läuft, ist es der gewohnte Blick, der mich packt. So unendlich traurig. Sie hat sich nicht verändert, sie steht noch immer an dieser Kreuzung, deren richtiger Weg einzuschlagen gilt. Und mir wird bewusst, dass ich sie vermisst habe. Weil Dinge nicht besser werden, wenn wir sie von uns schieben. Aus den Augen heißt nicht aus dem Sinn. Manches bleibt viel länger, als es uns lieb ist. Und alles was wir tun können, ist versuchen, damit umzugehen: stärker werden, um es in den Arm zu nehmen und ihm über die Straße zu helfen. 

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