Dienstag, 20. November 2012

Von Soulmates und Spülmaschinen


Seinen Seelenverwandten finden: Das ist die Bürde, mit der uns das Leben demütig hält. Der Mythos um diese eine Person, die uns vervollständigt, erweitert und uns zu etwas Neuem macht, das mehr wir selbst ist, als wir es je für möglich hielten.
Nehmen wir an, das ist tatsächlich so. Dann gibt es genau drei Möglichkeiten für uns, diese Theorie zu bestreiten: Wir können ihn finden, nie treffen oder ihm begegnen – um dann festzustellen, dass es nicht funktioniert. Das würde bedeuten, dass zwei Drittel der eventuell eintretenden Ereignisse ein eindeutig negatives Ergebnis nach sich ziehen. In erster Hinsicht für uns, in zweiter vielleicht auch für unseren Soulmate.
Diese vernichtende Statistik ist ein unausgesprochener Fakt, der sich wie ein Schatten über all die rosaroten Brillengläser und siebten Wolken legt. Und das bereitet Kopfzerbrechen. Denn die Angst, ihn zu verpassen, ihn vielleicht nie zu finden, wird zur allgegenwärtigen Last, die bei permanenter Anwesenheit für Wundschmerz sorgt. So laufen wir Gefahr, uns in einer Fata Morgana zu verlieren oder an etwas festzuhalten, das nicht zu greifen ist. Die Ironie daran erkennen wir erst, wenn die automatische Worterkennung unseres Telefons aus ihm, dem einen Großen, „Spülmaschine“ macht. Ich hatte mal eine, ein vermeintlicher Soulmate nahm sie mit. Seitdem wasche ich lieber per Hand ab.


Montag, 12. November 2012

Wenn





Es gibt Momente im Leben, da weißt du, dass es dir schlecht geht. Wenn die Augen bei jedem Wimpernschlag brennen, das Loch im Magen lustlos verweilt, Blicke in die Ferne schweifen, ohne dabei auch nur einen einzigen Punkt zu fixieren. Wenn sich das Bett viel zu groß anfühlt, die Wohnung viel zu leer ist. Wenn der Kopf an bekannten Ecken und Orten kurze Filme wie Kino-Trailer abspielt; Lippen nur noch spröde sind, der Teint fahl. Wenn die Mundwinkel zu müde sind, um sich aufzurichten, Schultern hängen und der Blick in den Spiegel das Drama nur noch sichtbarer macht. Wenn Wein zum Wasser wird, die Nacht zum Tag und der Morgen die grausamsten Stunden hat. Wenn sich Minuten wie Stunden anfühlen, Hände zittern, Füße stolpern und das Herz, tränenschwer, schmerzhaft kontrahiert, um den Rest des Körpers nur noch mit dem Nötigsten zu versorgen. Wenn das Lieblingslokal zum Kriegsschauplatz wird, aufrichtige Worte zur Qual werden. Was genau ist dann?

Donnerstag, 8. November 2012

Der höchste Preis für Machtlosigkeit



Eine grundlegende Theorie in der Soziologie beschreibt den Austausch von Anerkennung zwischen zwei Individuen als Basis menschlicher Interaktion. Es ist demnach so, dass wir nicht nur Geld gegen Riemchensandaletten, Lederröcke und Brokat-Designs auf Pullovern tauschen, sondern auch und vielleicht sogar vor allem moralische Werte zwischen uns und unserem Tauschpartner hin- und herschieben. Dieser Parameter ist scheinbar Ursache wie Auslöser eines jeden sozialen Handelns. Das Fragen um Rat bedeutet demnach nicht nur Interesse an Problembewältigung und ein Eingeständnis von Hilflosigkeit, sondern gleichsam eine Bekundung von Hochschätzung des wissenden Gegenübers.
Doch es sind nicht nur ungelöste Rätsel, die uns dazu veranlassen, jemanden um etwas zu bitten. Zielorientiertes Handeln ist auf Hinblick langfristiger Befriedigung ebenso möglich wie für den Kick des Augenblicks. Und wenn wir etwas wollen, müssen wir bereit sein, etwas zu geben. Auch wenn wir nicht wissen, ob es unserem Gegenüber wert genug ist, uns mit dem auszuhelfen, wonach wir uns sehnen. Alles, was wir tun können, ist es zu versuchen; wenn wir das ganz Große wollen, müssen wir den höchsten Preis zahlen. So wird ein „Ich liebe dich" zum „Liebe mich!", ein Kompliment zum Verlangen nach Selbstbestätigung und ein tränenreicher Abschied zum letzten Versuch, ihn nicht gehen zu lassen. 

Wir offenbaren uns nicht der Offenbarung wegen. Wir lassen die lebenslang aufgebaute und perfektionierte Fassade nicht fallen, weil wir in einem Anflug von Selbstlosigkeit Tonnen von Gefühlen in Zehnliter-Eimern in die Welt schütten wollen – einfach so. Wir tun das, weil wir etwas erwarten. Auch wenn wir nichts erwarten.
Das Problem bei diesem Tausch ist, dass ein Machtgefälle zur brutalen Abhängigkeit führt. Denn wenn wir uns bewusst darüber sein können, dass das, was wir um jeden Preis wollen, nur von dem Einen zu kriegen ist, werden wir folglich immer wieder versuchen, und immer wieder mehr setzen. Wir sind machtlos.
Es stellt sich die Frage, ob wir irgendwann ausreichend Wert zusammentragen können, um das, was wir so sehr wollen, zu bekommen. Denn Wertschätzungen sind subjektiv. So, wie wir unseren Einsatz betrachten, muss er nicht zwingend gewichtet werden. Kann es also je genug sein, alles zu geben?


Sonntag, 4. November 2012

Statistischer Herzwert


In der Mathematik wie im Leben haben wir es mit der Analyse von Häufigkeitsverteilungen zu tun. Dabei sind die Werte nicht zwingend allein metrischen Niveaus, sondern vermögen auch kategoriale Variablen einzunehmen. Denn wenn wir uns fragen, wie viel uns etwas wert ist, können wir die Schmerzgrenze für ein Paar neue Wildleder-Slingpumps bei 490€ Euro festlegen. Doch wo genau tragen wir das Maximum einzugehenden Verlusts für eine Liebschaft ab?


Fest steht: Kleinste Einheiten, Extremwerte und Wendepunkte lassen sich erst im Rückblick auf das, was Untersuchungsgegenstand war, ablesen. Wir wissen nicht, wie sich eine Funktion in ihrem Lauf entwickeln wird, bevor wir nicht alle notwendigen Werte des Stichprobenumfangs eingeholt haben. Weil wir nicht hellsehen können. Und weil wir hoffen. Und weil wir auch nicht wissen, ob die Slingpumps in der kommenden Woche reduziert oder ausverkauft sein werden. 
Was wir jedoch in prekären Situationen tun können, ist, die Spanne des Nullpunktes bis zum Ist-Zustand zu analysieren. Wir können unsere Gedanken von Anfang bis zum Jetzt die Kurve zeichnen lassen. Und sehen: Wie hoch waren die Werte wirklich, die wir in der Zeit eingingen? Wie verteilten sich Glücksmomente und kopfzerbrechende Nächte? Sind Zeit und Schmerz zwei sich proportional zueinander verhaltende Parameter? Tut es mehr weh, je länger es dauert? Oder ist es eine sich ausgleichende Balance – zwischen Wut, Trauer und feuchten Laken wie stundenlangen Augenblicken? Welche Maßeinheit hat ein verschwommener Mascara, ein verwischter Lidstrich, gegenüber zwei festgreifenden Händen? Kann ein gemeinsamer Wille größer sein als die Zahl des Kilometerzählers? Die Frage ist: Wann fängt es an, sich auszuzahlen und wann hört es auf sich zu lohnen?

Montag, 29. Oktober 2012

Kriegsende


Es ist ein Schlachtfeld: der Schauplatz, auf dem sich Vernunft und Emotion versuchen zu einigen. Denn während uns ersteres zu einem eigenständigen wie freidenkenden Individuum macht, jagt uns zweites 38°C warmes Leben durch die Arterien. Diese Koexistenz ist unabdingbar. Ohne ein funktionierendes Herz lässt es sich nicht leben, ohne ein funktionierendes Gehirn fehlt der Antrieb. Demnach ergeben wir uns dem ständigen Zwiegespräch, dem endlosen Hin und Her zwischen dem, was wir fühlen und dem, was uns gut tut. Im Idealfall tänzeln beide mit Leichtigkeit durch das Feld voller Minen, sich den Ball der Entscheidung spielerisch zuwerfend. Doch zum Teufel mit dem Idealfall.


Auf einigen Schlachtfelder grünt es bereits wieder. Es riecht nach Frühling und so Karma will, wird bald nichts mehr an die Krater und Metallhülsen erinnern, die Schmerz, Wut und Trauer formten. Auf anderen scheint es hingegen nur Nacht. Die Erinnerung ans Licht verblasst, der Boden staubt. Wenn ein Krieg so lang dauert, dass sich die Beteiligten weder an den letzten Sieg noch an eine Niederlage erinnern können, welche Motivation stärkt dann? Aus welcher Hoffnung ist noch zu schöpfen? Ist es dann die Resignation, die uns befreit oder zerreißt sie uns?

Montag, 15. Oktober 2012

Vom Klingeln und Klopfen


Der erste Eintrag im Telefonbuch zu sein ist nicht leicht. Denn es ist immer das Erste, was jemand sieht, wenn er vielleicht jemand ganz anderen sucht. Das macht unvergesslich. Und manchmal vielleicht sogar unbeliebt. Überdrüssig zu werden ohne überhaupt anwesend zu sein – hohe Kunst und unsagbar gemein. Das ist auch die Tatsache, jeden Anruf, jede SMS mit einem „Oh...das war ein Versehen!“ gerechtfertigt wissen zu können. Wenn dich also nachts der süße Typ aus der Bahn anruft, kannst du dir nicht sicher sein, ob er das tut, weil er gerade unsterbliche Sehnsucht nach dir hat, betrunken ist (und unsterbliche Sehnsucht nach dir hat) oder ganz einfach nur betrunken ist – und beim sich Übergeben zwei Mal nacheinander auf die grüne Taste kam. 
Mit dieser Bürde lebend, eignet man sich eine gewisse Grundskepsis an. Man kennt es ja. Und weiß schließlich nie. Wie bei der Türklingel: Wer zwei von drei Malen zur Sprechanlage hastet, um dann entweder niemanden zu sprechen oder mal wieder ein Paket für den Nachbarn annehmen zu müssen, kennt sie auch, diese Skepsis. So passiert es, dass nicht nur jeder Telefonanruf, sondern auch das Klingeln an der Tür kritisch hinterfragt wird. Die Folge? Das Telefon wird stumm gestellt, das Summen der Klingel ignoriert – oder der Hörer ausgehängt. Gleichgültigkeit macht sich breit. Die Enttäuschung hat die Neugier überholt, die Skepsis die Hoffnung abgehängt. Und wir laufen Gefahr, es zu verpassen, das neue Fremde. Selbst wenn es direkt an unserer Tür klopft.

Donnerstag, 27. September 2012

Boat Trip


Vieles ist leichter als es aussieht. Aber manchmal, da ist es auch schwieriger als gedacht. Und dann gibt’s blankes Chaos im Kopf. Zahllose Wenns, Hättes und Abers drehen sich im Kreis und energisch geschwungene Fragezeichen reichen sich verzweifelt die Hände. Die Antwort? Offen, ungenau und nicht vorhanden. 


Wir haben die Wahl: Wir können den harten, steinigen Weg des Ergründens gehen. Uns in den engen, von der letzten Tortur noch feuchten Neoprenanzug zwängen, um wieder mal durch die Tiefen unserer Selbst zu tauchen. In der Hoffnung, auf etwas zu stoßen, Licht zu finden oder wenigstens den verdammten Schalter dafür. Das ist anstrengend, ermüdend und in den meisten Fällen auch irgendwie aussichtslos. Aber es lenkt ab. Weil wir, während wir unser Innerstes nach Kommata, Punkten und Ausrufezeichen abtasten, damit beschäftigt sind, die Finger dafür zu kreuzen, nicht noch mehr Treibmüll zu finden. 
Doch es besteht auch die Möglichkeit, etwas Neues auszuprobieren. Etwas nahezu Revolutionäres: Wir könnten das miefige Taucherding einfach hängen lassen, um uns an den Rand zu setzen und auf das uns ansteuernde Boot zu warten. Klar, wir sind schon eine gefühlte Millionen Mal gekentert. Und jedes Mal mindestens ein Mal zu viel. Sicher: Das Wasser war kalt, richtig kalt. Und der Weg, den wir zurücklegen mussten, um endlich wieder Boden unter den Füßen zu haben, hat uns einen Mordsmuskelkater im Herzen beschert. Aber das Gefühl von Wind im Haar, Beine im Wasser und Salz auf den Lippen ist wertvoll. 
Und manchmal ist das, was nicht leichter war als es aussah, sondern tatsächlich schwieriger als gedacht, nur die Vorstufe von dem, was schöner wird als man es je erwartet hätte.

Freitag, 14. September 2012

Spring!


Es sind die verschiedensten Dinge, die meinen Verstand von Zeit zu Zeit nicht greifen lassen. Warum meine Wimpern, bei identischer Mascara und nahezu deckungsgleichen Lichtverhältnissen, in jedem Land anders aussehen. Oder warum mich Blicke in meinem sonntäglich geheuchelten Sport-Alibi-Outfit bestätigen und in meinem Lieblingsrock hingegen verunsichern. Oder warum ich, völlig willkürlich auftretend, das unbändige Bedürfnis verspüre, urplötzlich ganz schnell rennen zu müssen, wenn niemand hinsieht. Das alles und unter anderem verstehe ich nicht; habe ich nie und werde ich vielleicht auch nicht mehr. Aber damit kann ich leben.
Anders verhält es sich mit der komplexen Thematik um Leichtigkeit. Ein schwieriges Thema. Denn während mich Herzensmenschen mahnen, „es einfach laufen zu lassen“ oder „erst einmal zu schauen“ und mir professionelle Stimmen raten, „sich alles von selbst“ fügen zu lassen, habe ich mich nach jahrelanger Abstinenz von Einfachem schützend in den Tiefen von Zynismus, Sarkasmus und auch ein bisschen Sadomasochistischem vergraben. Weil das eben auch eine dieser Sachen ist, die ich nicht verstehe: es einfach „einfach“ sein zu lassen. Ja, wie verdammt?
Das Leben konditioniert uns. Und ich bin mir nicht sicher, wie viel Eigeninitiative darin steckt. Schließlich hatte Pawlow den Spucke-Reflex bei einer ganzen Reihe von Hunderassen auslösen können. Doch teilten sie eine Gemeinsamkeit: den Zwinger. Natürlich; hätte sich ein freilebender Hund auch niemals auf das Läuten der Glocke konzentriert, da er seine Nahrungsaufnahme selbst bestimmt. Sitzen wir also vor dem leeren Napf und sabbern beim Klingeln oder streunern wir, auf der hoffnungsvollen Suche nach Beute?



Die Frage klingt stark nach „entweder … oder …“, so einfach ist das aber nicht. Für eine Zeit lang hält sich wohl jeder ganz gern im Zwinger auf: Spuckefäden hin oder her – wir können zumindest ruhen. Der entscheidende Punkt ist, dass wir die Option des jeweils Anderen nicht aus den Augen verlieren. Manchmal geht es im Leben nicht darum, sich für den Rest des Lebens zwischen A und B entscheiden zu müssen, sondern um die Balance der beiden Wahlmöglichkeiten. Darum, den Ausgleich zu wahren: wenn die Tür offen steht, den Schritt zu wagen. Der Sprung ins Ungewisse ist nämlich nicht nur ungewiss, sondern zerzaust auch Haare, lässt Raupen im Bauch zu Schmetterlingen werden, kitzelt einen unkontrollierten Aufschrei aus uns heraus – gefolgt von himmlischer Leere in unserem Kopf. Denn alles konzentriert sich auf das Jetzt.
Und das ist sie vielleicht: die Leichtigkeit. Nichts zu wissen, aber alles zu hoffen. Zu fallen ohne Angst zu haben – pures Aufgeregtsein. Weil es darum geht, uns selbst zu befreien. Immer wieder aufs Neue.

Samstag, 1. September 2012

Herz über Kopf


Manchmal tun wir Dinge, von denen wir ausgingen. Und manchmal jene, die uns überraschen. Einige erfordern Mut, andere genügend Pinot Grigio. Ehe du dich versiehst, findest du dich in einem Moment des Adrenalinüberschusses wieder, der dich erbarmungslos dazu zwingt, deinen Kopf aus- und das Herz anzuschalten. Weil die emotionale Intelligenz ein Steckenpferd ist – für all die, die sie zu entschlüsseln wissen. Und für all die, die mit ihr blind Achterbahn fahren. Nur nicht für die Lebens-Konstrukteure, die mit dem großen Plan und der unermüdlichen Verwirklichung dessen. Sie finden sich nicht um Mitternacht mit dem letzten Sahnetortenstück schlaftrunken im Bett wieder oder noch später tauchend im Pool, bei strömendem Regen und splitternackt. Und sie treffen sich auch nicht heimlich mit dem Hotelpersonal, nur weil sein Hintern, die Oberarme, ...


Das kann erschreckend sein. Weil du dich nicht wiedererkennst, weil du zweifelst und denkst. Weil du die vielen Probleme siehst, die es mit sich bringen wird. Weil du doch eine Kleidernummer verlieren wolltest. Weil deine Haare luftgetrocknet viel zu kraus sind. Weil es nur ein Tanz ist. Weil niemand es versteht, weil es noch nie jemand verstand. Weil du es anders erwartet hättest. Weil es anders sein könnte.
Aber es ist so. Und es macht Spaß, unheimlich!

Freitag, 31. August 2012

Einzelzimmer mit Poolblick II


Als ich den Salon zum Frühstücksbuffet betrete, kleben die Blicke erst an mir, dann auf der Pendeltür, die ich mit meinem Eintritt zum Schwingen gebracht habe. Nicht unbedingt, weil ich das viel zu teure, neue Kleid aus der kleinen Boutique in der Altstadt trage (feinste Seide, hauchzarte Träger und ein Saum, der meinem Knie von oben herab süffisant zulächelt), sondern weil niemand folgt. Es kommt keiner mehr. In meinen Gedanken sehe ich mich die brötchenschmierende Horde von Zweiertischen hysterisch anschreien: „Ganz richtig: Ich werde allein frühstücken! Und ich bin froh darüber!“
Um ehrlich zu sein, bin ich das wirklich. Vor dem Mittag bin ich kein kommunikativer Mensch. Es braucht seine Zeit, bis sich mein Verstand wachgerüttelt hat und die so klug klingenden Sätze meine Lippen passieren können. Während sich mein Intellekt also hochfährt, genieße ich die Stille.
 

Und doch hat alles zwei Seiten: Die gute ist, dass du allein einschläfst – und aufstehst. Die schlechte ist, dass du, solltest du zwischendurch aufwachen, niemanden hast, mit dem du dir die Zeit bis zum wieder Einschlafen vertreiben kannst. Dann gibt es nur dich und die Decke. Oder wahlweise das Fenster – mit seinem sternenklaren Blick in die unendliche Nacht.

Mittwoch, 29. August 2012

Einzelzimmer mit Poolblick



Der Mensch ist zweisam. Allein, weil die Natur das so vorsieht.
Es ist ein urbaner Mythos, dass Berlin eine Single-Hauptstadt ist. Genauso wie die unzähligen vielversprechenden Cluburlaube in Südeuropa. Denn wir treffen sie überall: zu zweit. Egal, ob an der Kasse im Supermarkt, im Spätkauf oder in der Hotel-Lobby. Ich bin knapp sechshundert Meter, entlang halsbrecherischer wie todesmutiger Serpentinen, über den Meeresspiegel gefahren – sexy Aussicht, laszive Poollandschaft. Doch auch das muss ich teilen; mit Pärchen, Eheleuten und jenen, die die ihrige retten wollen.
Während die Doppelzimmer eine romantische Panaroma-Sicht auf den Gardasee bieten, starre ich aus meinem Einzelzimmer-Fenster direkt auf die Poolbar. Ist das gut gemeint oder ein zynischer Wink?
Als ich mein Bett bemängele (Auf diesen Federn lässt sich noch nicht einmal zu zweit Spaß haben!) entgegnet mir Elena, die Rezeptionistin, wie folgt: „Wir sind leider nicht auf Singles eingestellt.“ Bäm. Da ist sie. Die bittere Wahrheit. Zusammen mit ihrem mitleidigen Blick katapultiert mich diese Aussage in einen tiefen Kerker der einsamen weil verlassenen Seelen. Weil ich nicht mit meinem Fast-, Schon- oder Noch-Ehemann angereist bin, muss ich also auf chloriges Wasser schauen und mir die House-Hits der aktuellen Charts Nacht für Nacht in den Ohren dröhnen lassen? Ich denke nicht, dass sich das in einen plausiblen Kontext setzen lässt.

Montag, 23. Juli 2012

Somehow the nights are always the longest



[...]
Praying that you'll remember me.
Praying that you'll remember me when my years run out.
When our cycle discontinues.
When your fears run out.
Praying that you'll remember me when you move on.
Praying I'm still your weakness when you grow strong.
Never let your heart run out on you.
Never let your heart run out on you...

Dienstag, 26. Juni 2012

Mach das Fenster auf!


Niemand kann uns helfen, außer wir selbst. Diese Erkenntnis hat das Potential, zur zerstörerischsten sowie bittersten des eigenen Lebens zu werden. Oder aber auch zum realistischsten emotionalen Arschtritt, den eine verlorengegangene Seele bekommen kann.
Es ist ein feindseliges Gefühl, an diesem Punkt angelangt zu sein, an dem man keine Wahl mehr hat; an dem jeder Weg nur eine weitere miese Alternative ist. Es steht alles offen, doch kamen wir uns nie gebundener vor.
Das ist der Moment, in dem wir inständig hoffen, jemand käme uns zur Hilfe: ein Prinz auf weißem Pferd, der Antiheld mit Latexmaske, die Blondgelockte in Engelsgestalt, der Selbstlose, die noch Selbstlosere, die Liebe, Wut, Hass – irgendetwas. Doch das ist nicht, was passieren wird.
Wir können also weiter in der Ecke kauern, mitleidig das Gesicht verziehen und uns der Illusion hingeben, irgendwann eine starke Hand gereicht zu bekommen. Oder aber aufstehen und einfach gehen. Welchen Weg? Ganz egal. Belohnt werden wir durch ein Gefühl. Welches? Es ist egal! Scheint doch so ziemlich jedes besser, als ein deprimiertes Schluchzen des eigenen Seins.
Aussichtslosigkeit ist nicht existent, sie passiert nur dann, wenn wir nicht hinsehen. Also: Mach mal wieder ein Fenster auf und lass die Möglichkeiten rein.


Montag, 18. Juni 2012

It was a perfect storm


"[...] It's a big bad world full of twists and turns and people have a way of blinking and missing the moment. The moment that could have changed everything. I don't know what's going on with us, and I can't tell you why you should waste a leap of faith on the likes of me. But damn you smell good, like home. And you make excellent coffee. That's gotta count for something, right? [...]"


Freitag, 8. Juni 2012

Etwas über das Vermissen

Es gibt für alles eine Erklärung. Das haben wir gelernt. Und Wissenschaftler, Forscher, Tüftler und Experten setzen einiges daran, diese These aufrecht zu halten. Darum ist Liebe nicht mehr als Serotoninüberschuss und Liebeskummer der Entzug dessen. Für die hoffnungslosen Romantiker ist das vielleicht ernüchternd, für die hoffnungslos „Verliebten“ jedoch der Untergang. Denn wenn unsere Gefühle nicht nur geistig nicht steuerbar sind, sondern sich auch unkontrolliert durch Dritte beeinflussen lassen, ist unser Herz eine autonome Institution, die uns wahlweise auf Wolken oder durch die Hölle schickt – je nachdem. Und weil „je nachdem“ schwammiger nicht sein könnte, müssen wir ständig auf der Hut sein, vor der Liebe und ihrer Entourage von Schmerz, Sehnsucht und Einsamkeit.
Doch egal, wie sehr wir uns auch sträuben, im ungeschicktesten Zeitpunkt überrollt uns die Lawine von Adrenalin und Dopamin und wir sind unfähig, uns zu wehren. Solange die Pegel ihren Maximalwert halten, erfreuen wir uns noch am Hormonüberschuss und könnten wohl nicht „glücklicher“ sein. Verlässt uns aber unser Reiz-Objekt, ist der Aufprall hart. Denn leider gibt es für Lieben-Gelassene kein Methadon-Programm. Der kalte Entzug steht bevor und damit eine der großen psychischen Belastungen des menschlichen Geistes: das Vermissen.


Dass so ein „Cold Turkey“ echt ätzend ist, wissen wir spätestens seit „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Und es gibt mehr Gemeinsamkeiten, als uns beim Anblick der strähnigen Haare und der unreinen Haut von Christiane lieb ist: Flüssigkeitsverlust, Halluzinationen, Depressionen. Man sagt, man benötigt die Hälfte der Zeit, die es gedauert hat, bis es vorbei ist. Wer die hinter sich hat, weiß: Das ist Quatsch. Es dauert eben solang wie es dauert. Und es muss mindestens eine halbe Millionen Mal vorbei sein, um sein Ende zu finden. Wir werden nicht geheilt, sondern sind im besten Fall nur irgendwann „trocken“. Danach laufen wir tagtäglich Gefahr, einen Rückfall zu erleiden und sind gezeichnet von der Anstrengung, uns immer wieder erneut wehren zu müssen.
Besonders verhängnisvoll sind Straßen, Plätze und Lieder, die uns im Alltag begegnen. Nicht alle emotionalen Hinterlassenschaften passen in einen entflammbaren Schuhkarton. Ihnen Stand zu halten, bedarf einer ungemeinen Portion Stärke. Weil wir ihnen nicht entkommen können. Und plötzlich wieder mittendrin sind: im ersten Date, im ersten Kuss, in der ersten Taxifahrt, nach Hause, mit verlaufenem Mascara. Dieser Moment ist entscheidend – sind wir wirklich schon soweit? Können wir den Whiskey Whiskey sein lassen und ohne weiteres zum Wasser greifen? Wer diese Frage mit einem Schulterzucken beantwortet, ist noch ziemlich am Anfang dieses Horror-Trips. All die, die wissen, dass sie es nicht können, wissen nämlich wenigstens das.

Donnerstag, 7. Juni 2012

Manchmal macht es nicht „Bäm!“ – sondern „B…ä…m“

 
Mit „Crash! Boom! Bang!“ trafen es Roxette Mitte der 90er so ziemlich auf den Kopf. Sie benannten gleich ein ganzes Album nach diesem Gefühl, das dich rücklings packt und zu Boden wirft. Keine Luft mehr kriegen, weiche Knie, sich aufführen wie ein Volltrottel – ein fantastisches Gefühl. Und noch viel besser: Man weiß weder, warum genau, noch wie lange das jetzt anhalten wird. Ist ja auch egal; vermutlich für immer. Oder zumindest bis zur Hälfte.
Doch was passiert, wenn es kein „Bäm!“ gibt? Wenn uns nichts „die Schuhe auszieht“, uns rasendes Herzklopfen verpasst? Wenn da nicht dieses Kribbeln in den Fingern ist, die hektisch Nachrichten ins Handy tippen und danach doch zu feige sind, sie abzuschicken, und unser Verstand auch nicht überall Doppelgänger enttarnt oder das zumindest will? Ist es zwingend keine Herzenssache, wenn eventuell-Nachrichten erst gar nicht in Frage kommen und sich Sexträume ausschließlich um Sex drehen – ohne Vorgeschichte und Nachspiel?


Wir können Menschen aus den verschiedensten Gründen mögen: weil sie charmant sind, so unglaublich intelligent, uns zum Lachen bringen, verworrene Sätze verstehen, bevor wir sie überhaupt beendet haben, weil sie wissen, das Richtige zu sagen und in den richtigen Momenten die Klappe zu halten, weil sie unseren Chardonnay-Konsum teilen, unsere Küche deflorieren oder die perfekte Mischung aus „Ich brauche meinen Platz im Bett!“ und „Ich will deinen Körper: hier, jetzt!“ finden. Körperliche Sympathie kann entstehen, wenn aus Diskussionen über Weltpolitik und Sozialpsychologie heißes Aneinanderreiben wird und findet seine Bestätigung, wenn die Finger nicht mehr auf der eigenen Seite des Bettes bleiben, hätten sie doch die Möglichkeit. Und trotzdem können wir nach Hause gehen, Wäsche waschen, den Abwasch machen oder seelenruhig unsere Schuhe sortieren, ohne, mit Freundin am Ohr, den Schallplatten-Hänger mit seinem Namen in Endlosschleife abzuspielen. Kann dann „mögen“ genug sein?
Vielleicht ist es eine Theorie, die sich mit dem Wachsen und Reifen rund um das L-Wort bestätigt. Denn wer nicht wagt, der nicht gewinnt, wer nichts riskiert, hat keinen Spaß und wenn wir dadurch nicht schon gestorben sind, langweilen wir uns noch heute. Haben wir also unser Kontingent an Crashs, Booms und Bangs ausgeschöpft, gab es da schon die Zahl x, die uns hätte zeigen sollen, dass alles Verknallen und Verzücktsein letztendlich in großem Nichts endete, sollten wir es besser wissen. Doch tun wir nicht. Bis uns jemand sagt, der immer zwei Jahrzehnte weiser sein wird als wir selbst, dass es sich auch entwickeln kann. Weil es manchmal eben nicht „Bäm!“ macht, sondern „B…ä…m“.

Samstag, 19. Mai 2012

Eine Antwort, die alle Fragen stellt

 
Ein Philosophie-Student erzählte mir mal, dass das erste, was er in seinem Studium gelernt hatte, die Tatsache gewesen ist, dass wir im Grunde genommen rein gar nichts wissen. Das war wohl so ziemlich das Erleichterndste und Erschreckendste zugleich, was ich jemals hörte. Denn obwohl ich ein wirklich überaus großer Fan vom Deuten und Dechiffrieren bin, ist es wohl so, dass auch der größte Analytiker irgendwann an den Punkt kommt, Gewissheit haben zu müssen. Weil wir manchmal mit all dem Rätselraten gegen die Wand fahren. Und große Gefahr laufen, dabei den eigenen Kopf zu verlieren. Ich frage mich: Wann haben wir damit angefangen, zwischen den Zeilen zu lesen? Und vor allem: Warum? Wieso ist ein Wort kein Wort mehr und eine Tat nur noch Symbolik? Warum regiert Rhetorik den Alltag und nicht die Botschaft selbst?


Es gibt Dinge im Leben, bei denen ein Buch, das alle Antworten hat, mehr als hilfreich wäre. Spätestens dann, wenn wir uns bewusst werden, auf der Stelle zu treten. Denn manchmal kann so ein direkter Fakt ungeahnte Dynamik auslösen. Was wir also bräuchten, wäre quasi eine Enzyklopädie der emotionalen Intelligenz. Zumindest hätten wir dann die Wahl, könnten uns selbst überprüfen. Doch stattdessen verirren wir uns mehr und mehr in einem Taumel von Hoffen und Glauben, Meinen und Denken ­– ohne dabei auch nur den geringsten Schimmer zu haben. Also fangen wir an, zu ergründen, alles hervorzukramen, jedes Einzelne findet seine eigene Beleuchtung. In welchem Licht? Das ist wohl stimmungsabhängig und beugt sich der mentalen Persönlichkeit des Individuums. Wo bereits das vielleicht grundlegende Problem liegt: Wie können wir uns sicher sein, dass das Gesendete auch empfangen wird? Oder besser: Wie groß ist die Chance, dass wir das, was gesendet wird, auch tatsächlich empfangen?
Wenn der Philosophie-Student, mitsamt seiner Mitstudenten, Professoren und Institutionen, tatsächlich recht hat, wenn wir wirklich nichts wissen können, dann würde das bedeuten, dass wir immer und nie eine Chance haben; dass wir alles und nichts erreichen. Die Frage: Ist das jetzt gut oder schlecht?

Montag, 7. Mai 2012

Physische Psyche


Es gibt Situationen, in denen könnten wir unserem Gegenüber nicht näher sein: wie dem Gynäkologen beim halbjährlichen Eierstock-Check, dem Psychologen, dem wir zum hundertsten Mal den Sandkasten-Traum von vorletzter Woche als starkes Symbol unseres kindheitlichen Sehnens verkaufen wollen — oder dem Dunkelhaarigen, der uns gerade auszieht, nachdem er uns angezogen hatte, bevor wir ihn auszogen.



Dem Einen sind wir körperlich nah, dem Anderen emotional. Und in den seltensten Fällen vielleicht sogar beides. Doch was ist zuerst? Was bedeutungsschwerer?
Zweifellos ist die geistige Verbindung wohl die kompliziertere. Denn sie existiert durch die Komplexität des Denkens, durch das Erkennen von Zusammenhängen und Gemeinsamem. Sie ist eine intellektuelle Fessel, die wir uns gern anlegen lassen, doch deren Enge immer wieder zu justieren gilt. Die Doktoren der Seelenforschung haben schließlich studiert.
Körperliche Anziehung ist primitiver. Das ist der Moment, in dem wir kurz mal gar nichts denken, nur machen; in dem sich nichts falsch oder richtig anfühlt. Das triebgesteuerte Verhalten impfte man uns ein, um die Art zu erhalten. Wie sollte auch auf der Hand liegen, ob der traumtänzerische Homo erectus, der die magentafarbenen Blütenblätter genauso leidenschaftlich sammelt wie wir, auch das produktivere Sperma hat? Weil psychische Gemeinsamkeiten nicht die Art erhielten, konzentrierten wir uns auf Gerüche, Geschmäcker; optische Reize.
Das ist außerdem die Wurzel des Mythos vom "besten Freund": ein Junge, mit dem das Mädchen Pferde stehlen will, an dessen Schulter sie sich ausweint, weil ihr das Herz gebrochen wurde und von dessen Mutter sie geliebt wird. Sie findet ihn klug, hübsch, nett und weiß, dass er sie nie enttäuschen wird. Ins Bett geht sie trotzdem mit einem anderen. Weil da nichts ist, was knistert, was ihr unerklärlich heiß werden lässt, was sie zum Nichtdenken animiert.
Wir wissen also um die Seltenheit der geistigen Verbindung, möchten aber unsere Gene mit jemandem vermischen, der uns in erster Linie den Kopf ausschaltet. Indizien dafür sind bekannte Floskeln des Entsetzens: "Warum verdammt?" Und manchmal stellen wir uns diese Frage sogar selbst. Antworten finden wir keine. Weil es keine gibt. Weil die Tatsache Antwort genug ist.

Sonntag, 6. Mai 2012

Schritt für Schritt



Angeblich verarbeiten wir Trauer normalerweise in fünf Schritten:
1. Leugnen  
2. Zorn 
3. Verhandlung 
4. Depression 
2. Zorn (erneut) 
5. Akzeptanz
Wenn wir über eine sehr lange Zeit hinweg emotional auf der Stelle getreten sind, ist die Einsicht darüber erschreckend. Dieses tiefe Erschüttertsein sorgt dafür, dass wir es gar nicht abwarten können, den nächsten Schritt zu machen. Und plötzlich machen wir so viele, dass wir davonlaufen.
Bis zu dem Punkt, an dem wir auch das erkennen. Dann atmen wir durch, wagen einen zurück – um all das Revue passieren zu lassen, es zu überblicken – und können endlich unser eigenes Tempo finden.

Montag, 23. April 2012

Wann laufen Erinnerungen ab?

 
Hin und wieder gibt es im Leben Dinge, an denen wir unabdingbar festhalten. Wie die alte Lieblings-Jeans, in der wir vor fünf Jahren noch den vielleicht geilsten Hintern unserer Zeit hatten, das blaue Kleid, das uns bei all den ersten Dates erneut dieses „Je ne sais quoi“ empfinden ließ oder Omas Porzellan-Schale – die vielleicht tatsächlich hässlich ist, aber uns immer wieder das Gefühl von Weihnachten ’98 durch den Körper jagt.

 

Diese Objekte leben von Erinnerungen. Sie sind emotionaler Nippes. Und solange sie uns ein beherztes Lächeln und warme Gedanken verschaffen, ist ihr Dasein auch berechtigt – irgendwie. Doch im Laufe der Jahre sammelt sich außerdem eine Menge jener Dinge an, die uns zurück ins Gedächtnis rufen, wie wir vor bestimmter Zeit niedergeschlagen und hoffnungslos vor uns hin kauerten – der festen Überzeugung, das würde ewig so sein. Diese Dinge, meist Fotos, Briefe oder verdrängte Telefonnummern auf Zetteln, sind nicht zwingend hübsche Deko. Eigentlich wollen wir sie gar nicht mehr sehen. Darum schoben wir sie irgendwann in hinterste Ecken von Schubladen, klemmten sie in ungeliebte Bücher oder legten sie auf den „Das schmeiß ich alles weg, ernsthaft!“-Stapel. Und dort existieren sie dann vor sich hin. Bis ein zu später Abend hereinbricht und uns die Melancholie der zweiten Weinflasche umarmt.
Was kann uns ein Stück Papier geben? Das Bild eines Moments, der jetzt nicht mehr ist. Die Zahlen einer Nummer, die man nie wieder wählen wollte. Oder die Worte, die sich ewig in unser Bewusstsein fraßen – bis wir sie aufschrieben, um sie zu vergessen. Welchen Sinn macht es da, diese Protokolle schrecklicher Augenblicke aufzuarbeiten? Wie lang ist zu lang, sich erinnern zu wollen?

Freitag, 20. April 2012

Im Gespräch mit ihr


„Es jährt sich“, sagt sie, als sich das Weinglas füllt. Ich hatte eine unüberschaubare Zeit lang nichts mehr von ihr gehört. Was wir beide nicht sonderlich bedauerten. Denn eigentlich dachten wir, wir würden uns nie wieder sehen. Und das wäre gut so.
Zwischen uns hatte sich ein scheinbar nicht zu überwindender Abgrund aufgetan – weil wir in manchen Dingen einfach zu ähnlich sind, um in anderen so verschieden sein zu wollen. Das letzte Mal waren wir uns kurz vor dem Jahreswechsel begegnet. Es passte nicht mehr und ich war froh, als diese kurzzeitige Zusammenkunft endete.
Doch an diesem Abend treffe ich sie wieder. Sie sieht gut aus. Das Lächeln scheint weniger gefälscht und der leere Blick, der die letzten Male so verstörend auf mich wirkte, ist voll von Fassung und Einsicht. Ich habe das Bedürfnis, sie in die Arme zu nehmen. Aber dafür ist sie zu verschroben. Und ich irgendwie auch. Also redet sie, während ich zuhöre.

Es jährt sich. In einem Monaten wird es verdammte 366 Tage her sein, dass sie in der S-Bahn die Nachricht erhielt – an einem Freitag, den 13.; kurz bevor sie den Vertrag eines neuen Jobs unterschrieb, den sie hassen werden würde. Sie musste aussteigen. Ihr physisches Ich konnte sich nicht entscheiden: Musste sie weinen oder würgen? Sie fühlte sich in einen spektakulären Raubüberfall mit tödlichem Ende verwickelt: geschubst, gefallen, das Messer im Rücken – von hinten durchs Herz gerammt, um dann ganz langsam zu verbluten.
Die Leute drängten sich an ihr vorbei. Sie stand im Weg. Aber sie konnte nicht anders. Sie konnte nicht weg, sie wollte sich nicht bewegen. Ihre Ohren sausten, ihr wurde schwindelig und der Reiz in ihrem Hals stärker. Tausend Fragen waren offen – die sich jetzt im Sekundentakt potenzierten.
Hastig tippte sie wirre Buchstaben in ihr Blackberry, in der Hoffnung, den Zeit-zurückdrehen-Code zu entschlüsseln oder die Ungeschehen-Taste zu drücken. Mindestens die Ich-verstehe-Option zu finden. War es nicht ein verdammtes Smart-Phone? Aber es ging nicht mehr zurück, seit es angefangen hatte; dieses grausame Trauerspiel war nicht mehr zu streichen und verstanden hat sie bis heute nicht.
Das, was sich über unzählige Akte hingezogen hatte, war plötzlich nichts. Gar nichts. Eine Fata Morgana, die dem übermäßigen Mangel an Selbstwert entsprang. Die Antihelden-Story, die nur Sinnestäuschung war.
Dieser Tag war nicht der letzte, wenngleich der endgültigste. Alles was danach kam, war nur noch verworrener als zuvor. Es war die leidigste Zerstörung, die sie je hatte mit ansehen müssen – und in der Hauptrolle ihr Gesicht.
Hatte sie sich doch über all die niederschlagenden Momente hinweg blindlings an ihn geklammert: ihren Glauben. Sie hatte ihn verteidigt, ganze Argumentationsketten formiert. Denn wann immer jemand versuchte, die von ihr selbstgeschriebene Geschichte zu analysieren, schmetterte sie diesem alle Weil- und Aber-Formationen entgegen, die ihr hübsches Köpfchen bis dahin zusammengetragen hatte. Und nun musste sie feststellen, dass sie falsch lag. Dass der vermeintliche Durchblick falsch war. Einfach falsch. Diese zwei Zeilen auf ihrem Display machten das unmissverständlich deutlich.
Sie ließ sich von der Masse wieder in die Bahn schieben, suchte einen Fensterplatz. Den Rücken gerade und den Blick aus dem Fenster in die Leere gerichtet, schlug sie die Beine übereinander und drehte die Musik lauter. Das war der Moment, in dem sie keine Ausrede mehr für ihn hatte, keine Entschuldigung, kein Verständnis. Es war das erste Mal, dass sie es so sah, wie es war: zu Ende.

Während der letzte Rest aus der Flasche ins Glas läuft, ist es der gewohnte Blick, der mich packt. So unendlich traurig. Sie hat sich nicht verändert, sie steht noch immer an dieser Kreuzung, deren richtiger Weg einzuschlagen gilt. Und mir wird bewusst, dass ich sie vermisst habe. Weil Dinge nicht besser werden, wenn wir sie von uns schieben. Aus den Augen heißt nicht aus dem Sinn. Manches bleibt viel länger, als es uns lieb ist. Und alles was wir tun können, ist versuchen, damit umzugehen: stärker werden, um es in den Arm zu nehmen und ihm über die Straße zu helfen. 

Donnerstag, 19. April 2012

Unerwartet überrumpelt


Das Ding an Überraschungsmomenten ist, dass du nie vorhersehen kannst, ob sie dich jetzt glücklich machen – oder dir die Schamröte ins Gesicht treiben. Selbst an Orten, an denen du dich in vollkommener Sicherheit wiegst, kann es passieren, dass dir das Unvorhersehbare mit voller Wucht gegen die Stirn klatscht. Was wir dann tun können? Das Gesicht wahren. Wir streichen uns die Haare aus dem Gesicht und lächeln dem Abstrusen souverän entgegen – ganz egal, wie prekär die Lage scheint. Ist es dann überstanden, können wir uns die Haare raufen, auf die Lippen beißen, hysterisch umherspringen und mit den frisch lackierten Nägeln die Fäuste ballen, ernsthaft gewillt, dem nächstbesten körperliche Gewalt anzutun. Aber so einfach ist das nicht. 
 
Es scheint nicht klar, ob der Tatvorgang selbst Auslöser unseres plötzlichen Adrenalin-Überschusses ist. Fest steht nur: Komische Aktionen passieren in komischen Momenten. Denn die Situation ist nicht geplant, nicht durchdacht. Es gibt keine Anzeichen. Nicht das Geringste könnte uns davor warnen. Wir sind unvorbereitet.
Vielleicht ist es eine Frage der Spontanität. Doch wie spontan kann sich schon ein Gefühlsausbruch in Zurückhaltung üben? In diesen Augenblicken werden wir meilenweit in die Urzeit katapultiert – da, wo Triebgesteuertes noch obere Priorität hatte und es nur ums Überleben ging. Was auch für den ein oder anderen Überraschungsmoment ein wünschenswerter Ausgang wäre. Es ist demnach nicht immer möglich, die Fassung zu behalten. Also rennen wir los, panisch, stolpern, verschlucken uns, kippen Dinge um oder – im schlimmsten Fall: der Versuch, das Gesicht zu verdecken und in Anonymität zu versinken. Fatal, weil es nicht funktioniert.
Wir können uns auf derartige Umstände nicht einstellen. Denn wenn es soweit ist, gibt es immer noch ein skurrileres Verhaltensmuster. Wie nervöses Lachen. Oder einfach nur da zu stehen – und plötzlich gar nichts mehr zu machen.

Sonntag, 15. April 2012

Sonntagsblues


Jeder Tag hat die Möglichkeit, der beste zu werden – hypothetisch betrachtet. Es sei denn, es ist ein Sonntag.
Denn das ist der einzige Tag innerhalb einer Woche, der dazu verdammt ist, den Résumé-Anspruch zu bedienen. Wir verarbeiten unser Freitag-Abend-Date, probieren vitaminhaltige Pharmazeutika, weil es in der Nacht zuvor zu viele Alkoholika gab, versuchen dem Mitbringsel aus unserem Lieblingsclub dezent zu verdeutlichen, endlich zu verschwinden oder aber wir stehen früh auf, um die Wäsche zu machen. Völlig egal, was wir tun: Sonntags ist es immer die ungeliebte Variante.
Zum einen, weil wir wehmütig auf eine ungezwungene Zeit zurückblicken, zum anderen, weil wir dem nächsten Tag, voller Termine, Pläne und Ansprüche an uns selbst, mitten ins Gesicht starren. Alles ist ein bisschen mehr schwarz, alles ein bisschen weiter weg. Sonntags ist die ganze Welt wie ein Vakuum: nicht zu greifen und ohne Druck erschreckend leicht. Weil Momente plötzlich vergehen.

Mittwoch, 4. April 2012

Sonntag, 1. April 2012

Dear Mr Postman


Manche Dinge eignen sich ganz besonders dazu, sie vor sich herzuschieben: der Abwasch, die Wäsche, der Weg zur Post. Doch spätestens dann, wenn wir keine sauberen Weingläser mehr finden und der Wonderbra zu einer Belanglosigkeit wie dem wöchentlichen Lebensmitteleinkauf ausgeführt wird, haben wir die Wahl: Wir können aus der Flasche trinken und unsere Brüste dem anabolen Supermarktkassierer unter die Nase quetschen. Oder zur Post gehen, um endlich diesen verdammten Brief abzuholen.
Ich gehe davon aus, dass an mich gerichtete Nachrichten in Papierform ihren Weg durch meinen Briefschlitz finden. Und das nervige Quietschen mit darauffolgendem Knallen am Morgen ist Beweis dafür. Doch lassen sich manche Sendungen allem Anschein nach nicht so ohne weiteres durch diesen größentechnisch beschränkten Einwurf schieben. So bleibt für mich nur eine Benachrichtigung darüber, dass mich jemand über etwas zu benachrichtigen versucht.
Der Regelfall verhält sich wie folgt: Es vergehen Tage, manchmal sogar Wochen, bis ich die Zeit, Lust und nötige Neugier zusammenhabe, um mich in der Poststelle nach dem Verbleib meiner Sendung zu erkundigen. Sind es doch nur in den seltensten Fällen Schriften, deren Inhalt mich überraschen. Eigentlich handelt es sich meist um die üblichen Laster: Rechnungen, deren Erinnerungsschreiben und deren Mahnungen. Auch diesmal war es verwechselnd ähnlich. Nur durchlief der Brief sogar eine Vielzahl an Zustellungsversuchen. Doch alles Falten, Knüllen und Zwängen nützte nichts. Genauso wenig wie das Klingeln des Postboten. Denn mein Briefschlitz behielt seine zu kleinen Maßen und ich war zu beschäftigt, abgelenkt oder gerade dabei, meine innere Mitte zu finden – und dabei alle äußerlichen Wahrnehmungen auszublenden. Erfolgreich.
Es hat eine ganze Weile gedauert, bis mich endlich das Schwarz-auf-Weiß erreichte. Den Absender kannte ich. Und es war keine Rechnung oder Mahnung. Aber eine Erinnerung. Und zwar daran, mich zu erinnern. Und es nicht mehr vor mir herzuschieben.